Anfang August zog es mich noch einmal nach Berlin. Für jemanden wie mich, der ein Studium mit unter anderen geschichtlichem Schwerpunkt hinter sich hat, ist Berlin generell eine der interessantesten Städte in Deutschland. An nahezu jeder Straßenecke kann man der Geschichte nachspüren. Noch mehr aber faszinieren mich Orte, an denen die Zeit still geblieben zu sein scheint. Ein solcher Ort ist die süd-westlich von Berlin gelegene Kleinstadt Beelitz, wo ich auf der Rückfahrt einen lange schon geplanten Stopp einlege.
Einst hochmoderner Klinikkomplex – heute verfallen
Heute ist das Städtchen wohl vor allen Dingen für seinen Spargel bekannt, um 1900 jedoch entstand hier ein riesiges Kliniken-Areal für die Einwohner des von der Tuberkulose geplagten Berlin. Die medizinische Technik war für damalige Verhältnis hochmodern. So gehörte zu dem Kliniken-Komplex ein Heizkraftwerk, das mit Kraft-Wärme-Kopplung betrieben wurde. Während der beiden Weltkriege dienten die Beelitz Heilstätten als Lazarett für verwundete Soldaten. Unter vielen anderen hat hier der verletzte Gefreite Adolf Hitler gelegen.
Während der Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche Gebäude stark beschädigt. 1945 übernahmen die Sowjets das Gelände und machten daraus das größte Militärhospital der Roten Armee außerhalb der UdSSR, das sie bis 1994 nutzten. Danach überließ man den Großteil der Häuser dem Verfall. Der Ort machte noch einige Male in schaurigen Zusammenhängen von sich reden. 1991 beging der von der Presse „Rosa Riese“ und „Bestie von Beelitz“ getaufte Serienmörder Wolfgang Schmidt hier einigen grausigen Doppelmord an einer Frau und ihrem Baby, 2008 kam es zu einem Mord an einem Fotomodel und 2011 erhängte sich ein Obdachloser in einem der Gebäude.
Auf dem etwa 200 Hektar großen Gebiet stehen noch heute etwa 60 Gebäude aus der damaligen Zeit. Einige wenige wurden restauriert und werden heute wieder medizinisch genutzt. Die meisten aber sind stark angegriffen, zum Teil nicht mehr begehbar und daher abgesperrt. Als ich in Beelitz ankomme, folgt auf mein Staunen über die zahlreichen Gründerzeithäuser unmittelbar eine Enttäuschung. Ich hatte am Bahnhof geparkt und mich auf die Suche nach den ehemaligen Kliniken gemacht. Schließlich komme ich an einen Rundweg, der an mehreren verfallenen und durch Bauzäune abgesperrten Häusern vorbeiführt. Wie ich von Spaziergängern erfahre, kann man eines der Häuser, die Chirurgie, im Rahmen einer Führung auch von innen besichtigen. Die letzte Führung startete um 16.30 Uhr. Wir haben 16.45 Uhr. Nun will ich nicht wieder abfahren, ohne wenigstens ein wenig dort spazieren gegangen zu sein und die Atmosphäre eingeatmet zu haben. In der Nähe gibt es ein kleines Café mit Außensitzplätzen, also mache ich erst einmal ein Päuschen. Ich komme ins Gespräch mit dem Betreiber des Cafés, der mir von der Führung abrät. Dort sei eh alles kaputt, versichert er mir. Ich solle vielmehr auf der anderen Straßenseite auf das Gelände, dort könne ich viel mehr sehen und auch in die Gebäude rein. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich trinke meinen Thermoskannenkaffee in einem Zug aus und mache mich auf den Weg. Und tatsächlich – in der gegenüberliegenden Parkanlage mit ihren imposanten Bäumen tut sich der Blick auf ein bemerkenswertes Gebäude auf – die Männerheilstätte.
Die Männerklinik
Ich schleiche um die alte Klinik herum, versuche die Atmosphäre aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln einzufangen und komme schließlich zu einer Eingangstür, an der eine Kette mit Umhängeschloss lose herunterbaumelt. Sachte ziehe ich die Tür einen Spalt auf und spähe hinein. Unmittelbar beginnt mein Herz zu pochen – ob nun vor Freude oder Anspannung weiß ich nicht mehr. Ich stecke den Kopf durch den Türspalt, schaue nach links, nach rechts und nach oben. Auf dem Boden liegt ein alter schwerer Holzbalken, der von der Decke stammen muss. Mit vorsichtigen Schritten betrete ich das Haus und finde mich in einem Treppenhaus wieder, das früher einmal wunderschön gewesen sein muss mit seinen verschnörkelten Metallgeländern und den gemusterten Fliesen. Im Hochparterre geht nach rechts und links ein langer Flur ab, der Putz blättert von den Wänden, überall Staub und Schutt. Durch die geöffneten Türen zu beiden Seiten dringt ein wenig Licht herein. Ich höre Klavierklänge. Keine Musik, nur einzelne Töne. Ich gehe langsam den Flur entlang auf eine große Flügeltür zu. Als ich ihr näher komme, eröffnet sich mir eine große Halle, vielleicht ehemals eine Kapelle. Durch eine Fensterrosette scheint die Nachmittagssonne und lenkt den Blick auf einen alten Klavierflügel mitten im Raum. Zwei Touristen stehen davor und klimpern auf den alten Tasten herum.
Nachdem ich eine Weile durch den großen Saal geschlendert bin, will ich mir unbedingt die Patientenzimmer und die oberen Stockwerke ansehen. Ich fühle mich fast wie Indiana Jones auf einem seiner Abenteuer. Ich steige die zum Teil verschütteten Stufen hoch in den ersten Stock. An jeder Ecke außergewöhnliche Anblicke. In meinem Kopf beginnt es zu rattern. Ich stelle mir vor, wie es vor hundert Jahren hier ausgesehen haben muss, höre fast schon die Schreie schwerverletzter Soldaten über die Gänge schallen und frage mich, wo es hier zu den vier Todesfällen gekommen ist. Mit zunehmender Anspannung durchforste ich das Gebäude, komme durch Behandlungszimmer, ein Bad, sehe rote Handabdrücke an den Wänden und gelange schließlich auf den Dachboden. Hier werde ich vorsichtig, denn der Boden ist nicht mehr aus massiven Stein, sondern gibt mit jedem Schritt leicht nach. In Gedanken sehe ich mich schon durch die Decke brechen und mit gebrochenen Knochen in einem Haufen Schutt liegen. Überall tauchen neue Zimmer, Gänge und Treppen auf, die ich erkunden kann. Als ich in ein etwas düsteres Zimmer komme, bekomme ich ein komisches Gefühl. Ich schaue mich nach allen Seiten um und zucke zusammen, als ich im Augenwinkel sehe, das irgendetwas Großes über mir an der Decke hängt. „Mein Gott!“, entfährt es mir. Als ich nach oben schaue, beruhige ich mich wieder etwas. Irgendein Spaßvogel hat einen alten Stuhl an der Decke befestigt.
Nach über einer Stunde in der Männerklinik mache ich mich auf den Weg zum Ausgang, was sich als gar nicht so einfach herausstellt, da ich ständig andere Treppen hoch und wieder runter gestiegen bin. Wieder macht sich in mir ein ungutes Gefühl breit. Ich schaue aus dem nächstgelegenen Fenster, oder war davon übrig ist, um mich zu orientieren, denn hier drinnen sieht alles gleich aus. Scheinbar bin ich in einem komplett anderen Gebäudetrakt gelandet und muss irgendwie dorthin zurückkommen, wo ich reingekommen bin. Es dauert eine Weile, und ich wieder wo ich mich befinde. Der lange Flur taucht wieder auf, die Flügeltür, die Einblick in den großen Saal gewährt und schließlich auch die Ausgangstür. Draußen angekommen atme ich erst einmal tief durch, drehe mich noch einmal um und denke mir, dass ich auf jeden Fall noch einmal wiederkommen werde.
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