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Via de la Plata (Tag 07): Grenzgänger

Blick auf banos de Montemayor

Banos de Montemayor – Calzada de Béjar (12,5 km)
Von leisem prasselndem Regen werde ich sanft aus dem Schlaf geweckt. Ein Blick durch die Vorhänge verrät, dass es die ganze Nacht über geregnet haben muss. Und es regnet immer noch. Nach soviel Ausruhen ist jetzt Schluss mit Luxus. Gleich müssen wir raus in den Regen, egal wonach uns der Sinn gerade steht. Vorher speichern wir noch die letzte Wärme des wohligen Hotels und gönnen uns ein kleines Frühstück. Der Klassiker: das was die Bar um die Uhrzeit so hergibt. Der Mann hinterm Tresen ist sehr freundlich, auch wenn wir die ersten an diesem Morgen um 8 Uhr sind, die ihn zum Arbeiten scheuchen. Vielleicht liegt es auch daran, dass es mit meinen Brocken Spanisch immer besser klappt. Wir klären kurz ab was wir zum Frühstück möchten. Zum Café con Leche gibts entweder Toast mit Marmelade oder Chu-Chus (wird so ausgesprochen wie ich glaube, dass man es auch schreibt). Davon hat uns schon das Schweizer Pärchen begeistern berichtet. Also schlagen wir zu. Zweimal, bitte! Chu-Chus stellen sich als frittierte Teigwaren in Form von circa 15 cm langen Stangen raus. So eine ähnliche Form wie Spritzgebäck, nur langgezogen. Und fettig, sehr fettig. Der Hunger lässt mich 4 Stück verschlingen, bis mir das Fett den Magen zuschnürrt und das Alarmsignal “Besser jetzt aufhören!” ans Gehirn schickt. Ich lenke mich mit Lokalfernsehen ab.

Da wir heute eine eher kurze Tour von circa 13 Kilometern vor uns haben, lassen wir uns Zeit und schlendern noch etwas durch das Dorf. Zwei Dinge gibt es vor dem Start noch zu erledigen: Post und Essen. Wir haben einen Beutel mit all den überflüssigen Dingen, die wir nur als Ballast mit uns schleppen würden gepackt. Ich bin schon sehr gespannt wie viel das Paket wiegen wird… Erwartungsvoll stehen wir pünktlich zur Öffnungszeit um 8 Uhr 30 vor dem Tresen des Postangestellten und blicken ihn fragend an. Mit Zeichensprachen, Fingerzeig auf unseren Beutel und Wortfetzen aus unserem Wörterbuch machen wir ihm einigermaßen verständlich was unser Anliegen ist. Auch das Problem, dass wir einen Karton zum Verschicken brauchen, versteht er. Versteckt auf einem der verstaubten Schränke kramt er den vermutlich letzten Karton hervor. Und er passt, bzw. passen unsere Sachen mit viel Drücken und Quetschen dort rein. Jetzt gehts ans wiegen: 5,8 kg! Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass das tägliche Gewicht des Rucksackes bei maximal 10 kg wiegen sollte, was es jetzt auch wahrscheinlich tut.

Erleichtert und glücklich erledigen wir noch unsere Einkäufe im angrenzenden kleinen Supermarkt. Jetzt da wir 5,4 kg leichter wiegen, passen jede Menge neuer Gramm an Leckereien in den Rucksack. Noch im völligen Glücks-Erleichterungs-Rausch, fülle ich den Einkaufskorb voller und voller bis der Arm, der ihn trägt, schmerzt. Aber hier gibts so viele köstliche Sachen. Salami, Actimel, Müsliriegel mit Schoki… und Obst hab ich auch lange nicht mehr gegessen. “Lass uns einfach alles holen. Als Belohnung quasi.”

10 vor 10 im Nieselregen. Und bergauf. Steil. Eine alte gepflasterte Römerstrasse. Dabei weiß ich leider jetzt schon aus dem Reiseführer, dass uns die Steigung über den Berg bringen und noch länger andauern wird. Die Rede ist von einer halbe Stunde. Für mich also eine Stunde oder auch zwei. Ich atme tief durch und kämpfe mich mit der erprobten Methode Stück für Stück hoch, mache immer wieder eine kurze Pause und blicke zurück auf die Etappe, die ich geschafft hab. Unser Sprung mit dem Taxi hat uns tatsächlich wie in eine andere Zeit versetzt. Wieder ein neues Level, eine neue Welt in unserer “World of Warcraft”. Gestern noch im Flachland, heute schon mitten in den Bergen, auf Augenhöhe mit den Wolken, die an den Bergspitzen hängen bleiben. Sie bringen auch den Regen mit sich, reißen auf und laden ihn an Ort und Stelle ab. Blickt man an den lichten Stellen durch sie hindurch, erkennt man den Schnee auf den Spitzen der Berge. Oh Mann sind wir weit oben. Dem Himmel so nah.

Nach einem kurzen (und endlich wieder ebenen) Stück Asphaltstrasse erkennen wir schon in der Ferne ein großes Schild neben einer Tankstelle. “Bienvenido a Castilla y Léon!” Wir haben die Grenze erreicht, wechseln in eine neue Region. Adios Extremadura, jetzt gehts in die Berge. Diese Region (Kastillien und Leon) sollen das wahre Herz Spaniens verkörpern. Sagt der Reiseführer. Bisher war für mich alles wahr und spanisch. Daher bin ich um so gespannter was mich nun auf den folgenden Kilometern erwartet. Nur wenige Schritte in der neuen Region, merken wir kleine Veränderungen: die Wegmarkierungen sind deutlicher und aufwendiger. Statt der einfachen gelben Farbpfeile auf Stein und Baum, weisen uns nun zum Teil in den Boden eingelassene Jakobsmuscheln den Weg. Unter einer Autobahnbrücke wird die gesamte Route der “Via de la Plata” anschaulich mit verspielten Zeichnungen und Beschriftungen auf einer Betonmauer dargestellt. Dazu ergänzen Texte auf angrenzenden Schautafeln die Zeichnung. Auch wenn es nur eine einfache Darstellung ist, erst so wird uns wirklich deutlich wie viel wir eigentlich schon geschafft haben. Und wie nah unser Endziel liegt. Nur noch 4 Tage. Erster Wehmut kommt auf…

Wir sind über den Berg: es geht runter, fast schon steil. Die bisher vom bergauf- oder geradegehen vernachlässigten Muskeln werden jetzt richtig gefordert. Sie müssen das gesamte Gewicht abfedern, Schritt für Schritt. Nach circa einer halben Stunde bergab werden meine Beine schwer, die Oberschenkelmuskulatur und die Knie haben keine Lust mehr, machen schlapp. Sie übergeben die Last an die Arme, die versuchen das gesamte Gewicht abzufedern. Mehr als 70 kg knallen Schritt für Schritt auf die Walkingstöcke und als Verlängerung durch die Arme in die Schultern. Meine rechte Schulter streikt. Ich nehme meinen gesamten rechten Arm aus dem Geschehen, lege ihn wie in einem Verband zum Ruhigstellen an meinen Körper. Nur mit dem Linken zum Abstützen gehts weiter.
Der permanente Regen macht das Absteigen nicht leichter. Mittlerweile haben wir (in dieser Tour zum ersten Mal) unsere Regenponchos übergeworfen. Eingehüllt in diesen grünen, weiten Umhang mit der großen Ausbuchtung am Rücken, die aussieht wie ein riesen Buckel, wirken wir wie zwei Gnome aus dem Märchenwald. Die Landschaft um uns herum passt schon mal ganz gut. So ganz anders als die Berglandschaft, die wir gerade erst verlassen haben, öffnen sich grüne Wiesen, eingerahmt in Steinmauern und verstreute Laubbäume unserem Blick. In meiner Vorstellung laufe ich im Wechsel zwischen Irland und Österreich. Und dazu der ständige, feine Nieselregen. Der Schmerz holt  mich zurück nach Spanien. Kurze Erholungspause.

In Frankreich geht es weiter… am Ende des Abstiegs über eine alte, römische Brücke, gelangen wir wieder in eine so völlig andere Landschaft. Der flache Weg, eingebettet zwischen hohen, steinigen Bergen, läuft parallel zu einem kleinen Fluss. Üppig gewachsene Büsche vor den Kuhweiden verdecken den Blick auf das Wasser. Als würden die Regenwolken an diesem Fleck Erde schneller vorbeiziehen, ebnet trockenes Gras, fast schon Heu, den Weg. Keine Steigung, kein Abstieg, keine Kurven, einfach nur geradeaus… die besten Vorraussetzungen um wieder in Trance zu verfallen. Ruhe kehrt ein, Sorgen verschwinden, der Kopf ist leer.
Nach einem kurzen Augenblick (ich war gerade erst “weg”) wird dieses angenehme Gefühl unterbrochen: ein Teil des Männer-Pilger-Trupps, die wir schon mal in Galisteo getroffen haben, holt uns ein. In sportlichem Tempo ziehen zwei von ihnen an uns vorbei. Was die für ein Tempo drauf haben, Wahnsinn! Das Überholmanöver und die Tatsache, dass der Rest der Truppe nur circa 10 Minuten hinter uns liegt, setzt mich unter Druck. Mein gutes Gefühl beim Laufen, die Überzeugung fit und schnell zu sein, schwindet dahin. Trotz Taxi-Zeit-Sprung sind wir total langsam. In diesem Moment kann ich an nichts anderes denken, als die Konfrontation in kurzer Zeit direkt noch mal überholt zu werden, an belächelnde Blicke von männliche Sport-Pilgern, an die Größe meiner Schritte, an die Muskelschmerzen im Nacken und in den Beinen… ich versuche meine Geschwindigkeit anzupassen und verliere so dabei gleichzeitig. Während ich von der anfänglichen Ruhe allmählich in diesen (bekannten) Stress verfallen, wird mir gleichzeitig klar wie unwichtig das ist. Was soll den am Ende des Tages passieren? Es ist noch nicht einmal nachmittags und wir sind schon bald in der Herberge. Außerdem hat die Herberge mehr als 20 Schlafplätze. Also was soll denn schon geschehen, wenn wir später als die Anderen ankommen? Nichts. Es passiert gar nichts. Nur im Kopf, da passiert etwas. Da fühlt es sich nach zu-spät-sein an. Nach Niederlage, Versagen, Unruhe, Stress. Um diesen Kreislauf zu unterbrechen, machem wir eine kurze Pause, warten bis der zweite Männer-Trupp an uns vorbeigezogen ist und setzen den Weg fort. In meinem Tempo.

Der letzte Abschnitt von 1,7 km, laut Wegweiser, gibt mir den Rest. Es geht steil bergauf, es regnet immer heftiger wie aus Kübeln, ich hab Hunger, aber Pause machen im Regen ist sinnlos. Also weiter durchhalten bis zur Herberge. Genervt schleppe ich mich den Berg rauf. Davon war doch so gar keine Rede von im Reiseführer! Es hieß, dass es nach dem Grenzübergang immer fein bergab geht. Was verstehen die denn bitte unter bergab?

Die Ankunft in der urigen Herberge am Ortsanfang lassen all die schlechte Laune schlagartig verschwinden. Bei Eintritt in das alte Fachwerkhaus erwartet uns ein, durch das Kaminfeuer, erwärmtes großes Wohnzimmer. Um den, in der Mitte des Raumes gelegenen Kamin, stehen zwei einladende Ledersessel und eine Couch. Die weiteren langen Tische im Raum sind bereits von den anderen eingetroffenen Pilgern besetzt. Nachdem wir unsere nasse Regenponchos und die Rucksäcke abgelegt haben, suchen wir uns in einem der beiden großen Mehrbettzimmer eins der acht Hochbetten aus. Sogar mit frischer Bettwäsche, so dass unsere Schlafsäcke heute wieder mal pausieren können. Jetzt noch schnell einen Stempel in unsere Pilgerpässe und dann nix wie ab in die leeren Sessel, die ich schon bei unserer Ankunft entdeckt habe. Was für ein Wohlgefühl! Dazu jetzt noch einen Café con Leche, mein Notizbuch in der Hand, Kopf zurückgelehnt… genau so hab ich mir eine richtige Pilgerherberge vorgestell. Und gewünscht. Heute steh ich nicht mehr auf!

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