Calzada de Béjar – Fuenterroble de Salvatierra (20,7 km)
Was für eine erholsame Nacht, dank Oropax! Auch die frische Bettwäsche hat ihren Wellness-Teil dazubeigetragen. Jetzt schnell ins Gemeinschaftsbad bevor alle Anderen aufwachen und es hektisch wird. Nachdem alle Sachen wieder an ihrem gewohnten Platz im Rucksack verstaut und wir hungrig am Tisch platziert sind, trudeln die anderen müden Pilger nach und nach aus dem Schlafraum ein. Bei einem kleinen Frühstück (Standard: Toast, Zwieback, Butter, Marmelade, Café con Leche) führen wir uns Gespräch von gestern Abend mit Klaus, dem Rentner aus Ludwigshafen, fort. Nach dem Abendessen haben wir noch lange bei einer Flasche Wein zusammen gesessen und über das Pilgern, Träume und das Leben an sich philosophiert. Dabei hat uns Klaus auf eine Reise durch sein Leben als Ingenieur bei BASF, begeisterter Wanderer und Chorsänger, Vater von zwei Mittzwanziger Töchtern, aktiver Nachbar in Ludwigshafen und begeisterter Anhänger von Allem was mit Forschung zu tun hat, mitgenommen. Am Ende dieses Abends und auch noch jetzt am Anfang des Tages sind wir immernoch mit der Frage beschäftigt: „Wer ist eigentlich der natürliche Feind der Ameise?“ Sehr rätselhaft…
Draußen regnet und regnet es ununterbrochen. Wir warten entspannt ab, lassen die anderen Pilger vor uns losziehen. Wohlwissend, dass es genügend Schlafplätze in der Herberge im nächsten Zielort geben wird. Doch das Zögern macht den Regen nicht weniger. Da müssen wir jetzt raus, auch wenn es so gemütlich warm hier am Kamin ist. Noch ein letztes Mal die Wärme tief gespeichert, ziehe ich alle Klamotten drüber, die ich dabei hab. Denn neben dem Regen ist es bitterkalt draußen. An dem Klima merkt man, dass wir mitten in den Bergen sind. Raus aus dem verschlafene, idyllischen Dörfchen, geht es weiter auf einem Feldweg bis zum nächsten Ort „Valverde de Valdelacasa“. Das ungemütliche Wetter lässt und den 8 km langen Feldweg in 2 Stunden durchlaufen. Der Regen unterdrückt die Freunde am Gespräch miteinander und Lust auf eine Pause am Wegesrand. Still marschieren wir dahin, beieinander aber jeder für sich durch den Regen. Mittlerweile ist der Kopf so leer und die Umgebung schon so oft gesehen, dass es in diesem Moment nur den Blick nach innen gibt. Alles andere ist einfach nebensächlich. Mit völlig leerem Kopf laufe ich einfach. In meinem Tempo. Ich empfinden keinen Stress, keinen Druck. Nur den Körper, der mich antreibt zu laufen.
Als wir im nächsten Dorf an einem Gebäude mit hohen Fenstern (dem „Salle Social“) vorbeilaufen, winken uns von drinnen schon die anderen Pilger herein. Es ist das französische Trüppchen mit dem Spanier. Freudig über einen warmen und trockenen Ort für unsere Pause, gesellen wir uns zu den Anderen, die auch sichtlich froh sind im Trockenen zu sein. Durch unser zügiges Tempo haben liegen wir gut in der Zeit. Und außerdem haben wir ja gar keinen Stress. Gemütlich sitzen wir einfach da, genießen ein zweites Frühstück (Zwieback mit Marmelade aus der Pressflasche und natürlich Café con Leche) und warten einfach ab. Vielleicht wird der Regen ja noch weniger.
Es nieselt weiter. Laufen statt hoffen. Aus dem Dorf raus begleitet uns ein vom Regen durchnäßter Hund. Von uns getauft: die Auspasser-Kröte! Ganz aufgeregt und in rassendem Tempo flitzt er voraus, verschwindet rechts im Feld, taucht wieder auf, blickt zurück ob wir noch da sind und läuft weiter vor. Bis er irgendwann weg ist. Ich hoffe, dass er zurückfindet bevor wir noch von seinem Besitzer wegen Entführung verprügelt werden…
Es geht weiter über einen ziemlich breiten und rauschenden Bach. Vorher schon angekündigt im Reiseführer… wir erahnten unser Schicksal also schon vorher. Weniger schlimm als gedacht helfen uns große Steine am linken Flussufer das Wasser zu überqueren. Das machen wir doch in Laufgeschwindigkeit, wir Profis! Nach dem Fluss erwartet mich das vertraute Grauen. Diesmal noch viel grausamer: es geht bergauf und durch Matsch. Die braune Matschmasse klebt bei jedem Schritt an den Füßen wie klebrige Bon-Bons oder Kaugummi. Es fühlt sich so an als hätte ich Gewichte an den Füßen, die ich zusätzlich den Berg hochschleppen muss. Mühsam quäle ich mich Stück für Stück hoch, wohlwissend dass wir erst einige wenige Kilometer hinter uns haben und es noch einige mehr bis zum Ziel sind. Bei jedem Schritt durch den klebrigen Kaugummi-Matsch wächst die Wut und die Unlust. Es ist so als ob die Natur mir eins auswischen will und sich darüber lustig macht wie wütend ich darüber werde. Patzig stampfe ich extra stark in den Matsch, werde dabei total dreckig, is mir egal, und träller vor mich hin „Ohja das macht ja soviel Spass hier wie die tolle Danni durch den tollen Matsch stampft.“
Auf der Mitte des Berges, an der Stelle an der es besonders schwer ist und ich kurz davor bin stehen zu bleiben, entdecke ich im Augenwinkeln einen großen Stein. Intuitiv lege ich einen kleinen Stein nach Pilgertradition darauf ab und widme ihn meinem Papa. Ich widme ihm den Stein, als Zeichen dafür dass ich weiterlaufe wenn der Weg schwer wird, dass ich nicht aufgebe wenn es weh tut, dass ich genug Kraft habe um Hindernisse zu überwinden, dass ich ein Ziel habe und dass die Hoffnung mich motiviert. Ich laufe für ihn weiter, bergauf durch den Matsch. Kurz darauf ergreift mich ein Windstoß von hinten und drückt mich kraftvoll den Berg hinauf…
Nach circa 2 matschigen Stunden erblicken wir von einer Anhöhe das Dorf in kurzer Entfernung. Heiter und erschwingt trotten wir darauf zu. Am Ende des verschlafenen Dorfes (es ist wohl gerade Siesta) stoßen wir auf die urige Herberge, unübersehbar mit einem riesigen Holzkreuz vor der Tür. Der Reiseführer deutete es schon an: der sehr freundliche und offene Dorfpfarrer kümmert sich persönliche um die Pilger. Ich hoffe hier muss man nicht gemeinsam beten oder sowas. Das Ave Maria (oder war es das Vater Unser?) hab ich längst verlernt. Trotz anfänglicher Scheu bin ich ganz begeistert von der Herberge als wir eintreten. Es scheint ein altes Gehöft zu sein, verwinkelt, komplett aus Stein. In dem großen Aufenthaltsraum sieht man die Holzstreben an der Decke und religiösen Schmuck an den Wänden. Mich packt dieses andächtige und ehrfürchtige Gefühl, das man auch bekommt wenn man in Kirchen tritt.
In dem Dorfsupermarkt lassen wir unserem Riesenhunger freien Lauf und decken uns mit allen ein wonach uns gerade ist: Salami, Käse, Brot, Actimel, Obst, süßer Mandelkuchen. Das Verkäufer Pärchen inklusive Sohn haben sichtlich Spass dadran sich mit uns in spanisch-deutsch auszutauschen. Mit unserem Einkauf haben sind wir heute bestimmt der Umsatz des Tages. Mit all den Leckereien lassen wir uns dem kleinen gemütlichen Raum vor der Küche nieder. Der offene Kamin in der Ecke spendet wohlige Wärme. Tut gut nach den feucht-kalten Tagestour. Hemmungslos schlemmen wir unsere Leckereien, während gegenüber am Tisch das Abendessen schon vorbereitet wird. Neben der Frau und einem jungem Spanier sitzt dort auch der mürrische Seefahrer. So hab ich ihn zumindest getauft. Denn so sieht er auch irgendwie aus mit seinem kugelrunden Bauch, den verblichenen Tattoos auf den Armen und dem langen grauen Bart und dem Zopf. Immer mit einer selbstgedrehten Kippe im Mundwinkel (man bemerke: hier ist überall Rauchverbot). Als hätte er heute die schlechteste Laune überhaupt, murmelt er im Wechsel grummelt vor sich und läuft hektisch von der Küche in den Raum. Mich würde es nicht wundern wenn er im nächsten Moment versoffen auf dem Tisch einschlafen oder schlagartig völlig ausrasten würde. Beschäftigt erklärt er uns auf Spanisch was sein Problem ist. Wir nicken und lächeln. Und verstehen kein Wort. Zwischendurch neugieriges Nachbohren seinerseits auf Englisch aus welchem Land wir kommen. „Aus Alemania“. „Hahahahaa…“ da lacht er wissend. Jaja Deutschland, da hat er auch mal gearbeitet. Und schon ist er wieder in Gedanken über sein Problem. Ich glaube es geht darum was er für heute abend für alle kochen soll. Ist das nun der Koch oder der Pfarrer? Denn in dem Reiseführer ist die Rede davon, dass der Pfarrer gerne höchstpersönlich für seine Pilger kocht. Ein Pfarrer der gegen jede katholische Regel rüpelnd mit Kippe im Mundwinkel Kartoffeln schält und Bilder von sich und seinem Esel überm Kamin hängen hat? Neben ihm seine heimliche Frau und sein junger Untertan? Passt irgendwie nicht, aber vorstellen könnt ichs mir schon.
Bis zum Abendessen um 20 Uhr 30 (was für eine Uhrzeit?) haben wir noch etwas 2 Stunden. Ich nutze die Zeit und gönne mir eine wohlige Dusche. Auf Anraten der Franzosen nehme ich das seperate Badezimmer in dem Hauptgebäude. Da gibt es warmes Wasser im Gegensatz zu unserem Gemeinschaftsraum. Als ich fertig bin und das Badezimmer genauer inspiziere (Männer Duschgel, 2 Handtücher, Kamm..) frage ich mich ob das nicht das persönliche Badezimmer vom Pfarrer ist. Und jetzt haben wir alle hier geduscht… schnell weg. Entspannt lege ich mich aufs Hochbett, lasse den Blick über die 9 Hochbetten schweifen und schreibe in mein Tagebuch. Es so wohlig warm hier drin. Fast schon zu warm. Und ansteigend muffelig. Kein Wunder: sämtliche nasse Socken, Schuhe und Jacken hängen über oder neben dem bollernden Ofen in der Ecke des Raums. Man merkt den Muff erst wenn man von draußen rein kommt. Dann bleib ich halt liegen. Bis zum Essen.
Das gemeinschaftliche Essen ist ein Erlebnis! In dem Raum vor der Küche sitzen wir alle zusammen gepfercht mit circa 26 Leuten. Die Teller und das Besteck werden bis zum Letzen am Tisch durchgereicht. Groß aufgetischt für alle ist Salat mit Meeresfrüchten, frisches Brot und der Knaller: frisch gekochter Gemüse-Fleisch-Eintopf-Suppe. Ein Traum! Es wird immer wärmer und lauter und lustiger. Ein Stimmen-Wirr-Warr von Spanisch, Französich, Englisch und Deutsch erschallt gleichzeitig den Raum. Der murrige Seefahrer ist nun mitten in seinem Element. Als wir alle für sein üppige Dinner applaudieren ist die schlechte Laune ganz schnell vergessen und ein breites Lächeln schmückt sein Gesicht. Als dann mittem im Geschehen ein im Jacket gekleideter eher streng aussehender Mann den Raum betritt und es verhaltend ruhig wird, weiß ich bescheid: das ist der Pfarrer! Und der Seefahrer ist der Koch, oder wie man diesen Lebenskünstler auch nennen mag.
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