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Via de la Plata (Tag 05): Laufen wie in Trance

Canaveral – Galisteo (29,1 km)
Heute Morgen vibriert der Handywecker früh. Es ist noch dunkel draußen. Wir haben unsere erste 30km Tour vor uns. Diese Tatsache sollte mich eigentlich nervös machen. Dachte ich. Aber ich bin erstaunlich entspannt. Das gute Gefühl des gestrigen Abends wärmt immer noch mein Herz. In routiniertem Tempo packen wir unsere Sachen zusammen und lassen uns zu einem kleinen Frühstück (Cafe con Leche und Donuts) an der Bar nieder. Müde schlurft der Hotelier hinter dem Tresen hin und her und bereitet Cafes für die ersten Gäste vor. Wir sind früh dran, die Bar wacht gerade erst auf. Und der Boden ist wieder so mies dreckig: Aschenbecher, Mülleimer, Hosentasche in einem. Aber keinen stört´s.
Der Cafe und die Donuts sind eine Wohltat. Ich fühle mich gut gestärkt, ausgeglichen, frei im Kopf… gar kein Platz für Ängste, die Tour nicht schaffen zu können. Gemütlich machen wir uns auf den Weg.

Über ein längeres Stück Asphaltnebenstrasse, verlassen wir allmählich den Ort und gelangen auf einen Feldweg. Ein vertrautes Bild. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen und schon so warm, dass ich meinen Windbreaker ausziehen muss. Von weitem kann ich erahnen, was die Beschreibung unseres Reisführers bereits angedeutet hat: ein kurzer aber steiler Anstieg von 250 Metern zum Pass. Bäh! Das geht ja nur nach oben. Egal, wäre ja auch langweilig wenn die Tour nur flach wie in Holland wäre.

Ich will lieber in Holland laufen! Steigungen sind nicht mein Fall. Ich hänge nach den ersten 50 Metern Hügel verschwitzt und mit Puls 180 fest und muss eine Verschnaufpause machen. Ahhhrg! In diesen Momenten verfluche ich meine unregelmäßige Sportlichkeit. Ich bin derzeit Mitte (/Ende) 20 und hechele nach ein bisschen Bewegung wie ein fetter Bernadiner. Ok, mit meckern wird der Berg auch nicht kleiner. Ich muss weiter. Und so erklimme ich den (kleinen) Berg, Stück für Stück in meinem Tempo. Immer wieder unterbrochen durch kleine Pause. Meine schlechte Laune schleicht sich wieder an. Ich atme tief durch und sie damit weg. Oben angekommen, werde ich belohnt für meine Mühen. Wie in einem schattigen Märchenwald geht es ebenerdig weiter. Ein verschlungener Pfad führt uns hindurch zwischen verwachsenen Eichen, über weichen Moosboden. Die vom Anstieg angespannten Muskeln lassen jetzt locker und geben obendrein noch mehr Energie. Wie ein Gummiband, das man anzieht und dann loslässt. Mit diesem Energieschub laufen wir unseren Weg. Das Laufen fühlt sich auf einmal ganz leicht und schnell an, fast wie joggen. Den Blick nach unten gerichtet, beobachte ich den Ausschnitt meiner Füße und dem Boden. Rechts. Links. Rechts. Links. Das abwechselnde Aufsetzen der Füße auf den Boden wird zu einer einheitlichen, fließenden Bewegung. Wie schwimmen durch den Wald. Ab und an erhebe ich den Blick. Die Landschaft, der Märchenwald rauscht an mir vorbei, als stünde ich auf einem Fließband. Nur dass ich dabei in einer dynamischen Bewegung bin. Ich kann gar nicht stehen bleiben. Als wäre ich automatisch gesteuert, wie eine Maschine. In diesem Moment spüre ich die Last meines Rucksackes nicht mehr. Auch nicht die Schmerzen in Nacken und Waden. Wie ich später feststelle waren die Last und der Schmerz die ganze Zeit über da. Ich habe in diesem Moment einfach nur nicht daran gedacht. Ich denke an nichts. Ich konstruiere nichts im Kopf, ich grüble nicht, ich plage mich nicht mit Entscheidungen, ich zweifle nicht. Mein Kopf ist einfach nur frei, meine Seele unheimlich glücklich (das müssen die Endorphine sein) und mein Körper, der läuft und läuft und läuft.

Die Überquerung einer kleinen Landstrasse durchbricht meine Meditation. „Ich war gerade voll im Rausch! Wie in Trance!“ Begeistert teilen wir dieses gemeinsame Gefühl miteinander, das jeder alleine mit sich hatte. Es geht weiter aus der schattigen Waldlandschaft raus, rein in menschleere Dehesas (Viehweiden). Die immer heißer werdende Sonne, lässt mich im T-Shirt und Shorts weiterlaufen. Ein Traum! Die Reinigung meines Kopfes von allen unnötigen Gedanken und Restbeständen aus dem Alltag, hat Platz geschaffen für Neues. Für Träume und Sehnsüchte. Während wir uns in unserem Laufen treiben lassen, träume ich in meinen Gedanken von Orten, die ich schon immer mal bereisen wollte. Ich stelle mir vor wie ich durch Neuseeland touren würde. So wie jetzt, mit dem Rucksack auf dem Rücken. So wie ich es mir vorstelle, fühlt es sich auch an. Als wäre ich dort.

Die Bäume werden immer weniger. Somit auch der Schatten. Die Hitze setzt mir zu. Ich werde langsamer, werde schwach. Von hier oben, von dem Berg auf dem wir laufen, kann man unser Ziel „Galisteo“ schon in der Ferne erblicken. Aber ich bin durch. Brauche doch noch mal eine Pause, bis wir auf der anstehenden Asphaltstrasse weitergehen. Ganz schön schwierig ohne Bäume Schatten zu finden. Ein dicht gewachsener Busch tut es fürs erste auch. Nach 10 Minuten ziehen die ersten Pilger an uns vorbei, die uns schon seit einigen Kilometern im Nacken gelegen haben. Ein Zeichen, dass wir langsamer werden. Egal, sollen sie doch laufen. Jetzt bloß nicht stressen lassen.

Der Anstieg über die Asphaltstrasse ist zäh wie Kaugummi. Der Schweiß läuft mir den Rücken runter, als wolle er mich provozieren in dieser anstrengenden Situation. Autos ziehen an uns vorbei. Deren Fahrer blicken uns mitleidig an. Ich kann nicht mehr. Wann können wir denn endlich abbiegen? Der Blick nach oben zu dem weitern Verlauf der Strasse lässt nichts Gutes hoffen. Und da, endlich: das Tor ist erreicht an dem wir links abbiegen müssen. Geschafft! Endlich geht es weiter auf Schotterweg, wieder mitten durch Viehherden. Sind die mit den Hörnern etwa Stiere? Nee, ok. Entwarnung: Euter entdeckt.
Die Landschaft hier ist wesentlich karger und trockener als alle zuvor, die wir gesehen haben. Fast wie in der Wüste. Zwischendurch immer wieder Kühe, in allen möglichen Farben. Frei und ohne Zaun mit uns. Immer wieder dösig guckend. Von der hügeligen Wüstenlandschaft gelangen wir, an einem leeren Viehstall vorbei, wieder ins Grün. Die Landschaft hier erinnert mich an die Landschaft um Düsseldorf und Köln herum: grüne Felder, hohe Laubbäume. Fast schon irreal dieser Wechsel der Landschaften. Ich mache in meinem Tempo eine kurze Pause, im Schatten einer Baumgruppe, neben einem kleinen Fluss. Hunger und Durst lassen meine letzten Vorräte essen. Wohl wissend, dass es im nächsten Ort einen Supermarkt gibt! Gut gestärkt laufe ich weiter. Es sind die letzten Kilometer auf dem Weg zu unserem Ziel. Vor uns liegt nur noch ein leichter Hügel, den wir überwinden müssen. Der Schmerz, die Hitze, der Durst, der Hunger nehmen zu. Die Aussicht auf das Ziel treibt voran. Ich versuche mich in Trance zu versetzen und laufe einfach weiter. Noch ein Stück, um die Kurve, und da erblicken wir unser langersehntes Ziel: Galisteo. Nur noch wenige Meter und wir haben es geschafft: unsere 30 Kilometer!

Einen Schritt in den Ort, den Zweiten ins Hostal „Los Emigrantes“: Ich lauf keinen Meter weiter und ziehe ich mich auf unser Doppelzimmer zurück. Mein Körper sehnt sich nach dem bekannten Ritual: duschen und entspannen. Auch wenn die Dusche sich diesmal als eine halbe Badewanne mit Duschbrause ohne Duschvorhang entpuppt, ist es ein Segen. Die schmerzenden Muskeln reibe ich wie die Tage zuvor mit Voltarensalbe ein. Diesmal doppelt. Eingekuschelt in die frische Bettdecke und bei offenem Fenster, döse ich friedlich dahin. Ich bin so unendlich müde. So erschöpft. Mein Nacken schmerzt heftiger als zuvor. Ich spüre jeden einzelnen Muskel. Spüre jeden Knochen. Obwohl es draußen angenehm warm, fast heiß ist, friere ich unter meiner Bettdecke. Dadurch verkrampfen sich die Muskeln und schmerzen noch mehr. Kurz vorm Einschlafen schäle ich mich aus der Bettdecke und quäle mich nach unten. Die wärmende Sonne tut gut. Der heiße Cafe con Leche auch.

Der Männer-Pilger-Trupp von 5 Jungs ist weitergezogen in den nächsten Ort. Sie kriegen heute ihre 50 Kilometer voll. Ich geselle mich zu dem Schweizer Pärchen, Joachim und Agatha, das heute ihre Nacht auch hier verbringt. Schnell haben wir ein gemeinsames Thema: wie bewältigen wir die morgige Tour von knapp 40 Kilometern, plus die 10km zum nächsten Ort? Während wir Pro und Kontras auflisten, stellt sich schnell heraus was genau die Problematik ist. Für die Männer sind die 40km eine Herausforderung. Für die Frauen ein Grund den Bus zunehmen. Wir überlegen verschiedene Möglichkeiten, wie wir die Tour bestmöglich verkürzen können. Mit dem Taxi in den nächsten Ort und von da aus loslaufen? Nur die Hälfte der Tour laufen und dann im Freien schlafen unter dem Torbogen? Die gesamte Tour mit dem Bus überspringen? Alles noch nicht ganz so ideal. Der eine will so, der andere so. Um im Zeitplan zu bleiben, müssen wir die Tour rein theoretisch an einem Tag laufen. Wir können wie nicht auf zwei Tage aufteilen, da wir sonst zu spät in Madrid wären und den Flug verpassen würden. Alles überspringen ist auch doof, obwohl ich total schlapp bin und nicht weiß wie ich mich morgen fühle. Zweifel kommen auf. Doch wir kommen irgendwie nicht weiter. Wir reden Klartext. Wer will was? Als der Klartext ausgesprochen ist finden wir einen Kompromiss: wir fahren alle zu viert morgen früh einen Ort weiter und überspringen so 10km langweilige Asphaltstrasse. Vor uns würden dann die besagten 40km stehen. Während wir zwei Frauen auf der Hälfte beim Torbogen Stopp machen und zum nächsten Ort per Taxi fahren (die Visitenkarte von Raul dem Taxifahrer haben wir uns schon besorgt) laufen die Männer durch. Abends wären wir dann wieder alle zusammen in Aldeanueva del Camino. Sehr guter Plan! Ich bin beruhigt.

Die Unruhe kehrt zusammen mit meinem Hunger zurück. Schon seit unserer Ankunft um circa 16 Uhr hab ich unbeschreiblich großen Hunger. Hab ich mir ja auch verdient nach der Marathon-Tour. Aber nix: hier wird erst um 20 Uhr gegessen. Und jetzt ist es erst 18 Uhr. Wie soll ich das denn aushalten? Ich meckere lauthals rum. Verstehe nicht warum mich keiner versteht. Um die Zeit zu überbrücken und die schlechte Laune nicht wieder Oberhand gewinnen zulassen, laufen wir eine Runde durch den Ort. Ein kleine Freude: der Supermarkt hat geöffnet! Am Ostermontag! Für anstehende Tour und unser morgiges Frühstück kaufen wir das Nötigste ein. Ich gönne mir ein bisschen Obst und bereue es auch schon im nächsten Moment: das wird schwer… Mit Essen im Gepäck und einem Müsliriegel im Mund, geht es beruhigter und entspannter zurück ins Hotel. 19 Uhr, noch 1 Stunde.

Im kleinen Essensraum des Hostals erblicken wir am Nebentisch noch andere Pilger: ein australisches und ein französisches Pärchen zusammen an einem Tisch. Bunter Wortmix aus Englisch und Französisch. Sehr unterhaltsam. Zwei Tische weiter. Einsam aber glücklich, der verrückte Ire. Und unser Schweizer Pärchen, auf das wir schon seit 20 Minuten warten. Meine mittlerweile sauer gewordene Laune stimmt mich schweigend. Hunger, Schmerzen, Müdigkeit. Unser Schweigen wird durch das Eintreffen der Schweizer unterbrochen. Besser so. Endlich können wir bestellen, obwohl der Hunger mit mittlerweile vergangen ist. Die Kellnerin spricht nur spanisch. Ich versteh nichts. Aus den mehreren Gängen nehme ich das wo das Wort „Salat“ vorkommt und das mit „Calamares“. Heute lieber etwas Leichtes, ist ja schon spät. Stattdessen bekommen wir einen fettiger Mayonaise-Kartoffel-Salat und Calamares in Knoblauch-Öl. Soviel zum Themas was Leichtes…

Voll gestopft von fettigem Essen, legen wir uns schlafen. Ich liege ich wach und kann nicht einschlafen. Das schwere Essen und die ebenso schweren Gedanken halten mich wach. In diesem Moment fühle ich mich seelisch leer und erschöpft. Keine Kraft mehr positiv zu denken. Kein positiver Gedanke um Kraft zu geben. Würde so gerne die 40km laufen. Habe aber Angst die 40km nicht zu schaffen. Und die gesamte Tour überspringen mit dem Bus? Ganz alleine ohne ein Wort Spanisch durch die Walachei? Müde von meinen Gedanken schlafe ich ein. Morgen ist ein neuer Tag…

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