Casar de Cáceres – Tajo Stausee (22,4 km)
Versunken in friedlichen Träumen, drehe ich mich wie eine Raupe in meinem kuscheligen Schlafsack um. Irgendetwas reißt mich aus meinem Schlaf. In der Dunkelheit erkenne ich nur eine Silhouette. Es ist mein Laufpartner, der versucht mir flüsternd etwas mitzuteilen. Ich denke es ist etwas passiert und es ginge ihm nicht gut. Schließlich ist es mitten in der Nacht und alle anderen im Raum schlafen noch tief und fest. Panisch ziehe ich meine Ohropax aus den Ohren und frage ihn leise: „Was hast Du gesagt? Was ist passiert?“ Er antwortet flüsternd: „Ich hab gesagt: Du kannst noch weiterschlafen.“ Na toll, auf die Info hätte ich auch verzichten können. Jetzt bin ich wach. Ein Blick auf die Anzeige meines Handy unterm Kissen: 5.30 Uhr! Ich glaub ich spinne. Der Wecker geht, wie gestern abgesprochen, erst um 6:30 Uhr! Und was soll ich jetzt in der Zeit machen? Es ist stockfinster draußen!Ich erkenne die Idiotie so früh aufzustehen. So früh vor Sonnenaufgang, da wir im Dunkeln eh nicht laufen werden. Und das alles nur aus der Panik heraus im nächsten Ort nicht genügend Schlafplätze vorzufinden.
Ich blättere mich grummelig und schlecht gelaunt aus meinem Schlafsack. Um niemand um diese Horroruhrzeit aufzuwecken, schleiche ich leise zu den Waschbecken und versuche mir im Dunkeln die Zähne zu putzen. Klappt nicht. Nützt alles nichts. Ich packe meinen Rucksack und all meine restlichen Klamotten und schleife sie raus aus dem Schlafraum in den Aufenthaltsraum. Zähne putzen in der Küchenspüle geht auch. Danach lege ich meine Wandermontur an und setze mich mit verschränkten Armen auf die gegenüberliegende Couch. „Was ist los? Warum hast Du schlechte Laune?“ Was für eine Frage? Ich halte einen meckernden Monolog über die Idiotie des Frühaufstehens und dass mir total kalt ist und dass ich essen muss, es aber viel zu früh ist um Hunger zu haben, und überhaupt finde ich in diesem Moment alles doof. Aber wo ist eigentlich das Problem? Ich weiß keine Antwort und flüchte wortlos aus dem Raum auf den Platz vor der Herberge. Erstmal tief durchatmen und runterkommen.
Um 7:30 Uhr verlassen wir das noch schlafende Dorf, unterwegs auf einer Landstrasse. Aus mehreren Richtungen hört man Hähne krähen, die die aufgehende Sonne ankündigen. Eingesperrte Hunde bellen, als wir an einer Scheune vorbeikommen. Dort müssen mindestens 15 Hunde drin sein. Das lärmende Dorf hinter uns lassend, schreiten wir auf unserem Weg zwischen weiten Kuh- und Schaffeldern weiter. Eingerahmt von Steinmauern, übersät mit kurzen Bäumen und großen Steinfelsen. Eine Landschaft wie bei „Asterix & Obelix“. Wie ein Déja-Vu schleicht sich die Erinnerung an meine Urlaube auf den Aran-Inseln in Irland an. Laufen zwischen den Steinmauern… jetzt fehlt nur noch das Meer.
Die Sonne geht zaghaft hinter den Hügeln in der Ferne auf und taucht alles um uns herum in ein sanftes Rot. Wir nutzen den Moment und machen unsere erste Frühstückspause. Essen tut gut. Die schlechte Laune wird wie Eis von der Sonne dahin geschmolzen. Trotzdem werde ich nicht richtig warm mit der Landschaft. Die karge Weite empfinde ich eher als langweilig. Mir fehlt das Grün hier. Außerdem nervt mich jetzt schon das Gewicht meines Rucksacks. Die Lebensmittel alleine wiegen bestimmt 1kg. Um mir den weiteren Weg etwas zu erleichtern, lasse ich die Hälfte meines Trinkwassers ab und gebe einen Teil der Lebensmittel ab. Schon viel besser. Erleichtert geht es weiter.
Nach der eingerahmten Landstrasse, gelangen wir durch ein Viehgitter auf ein freies Schaffeld. Es wird grüner, grasiger, felsiger. Der Weg, hier eher wie ein Trampelpfad, führt mitten durch das Feld, mitten durch die Schafe. An einem Obelix-Felsen machen wir unsere zweite Pause. Ich lege mich auf die Wiese, schließe die Augen und bin innerhalb von 30 Sekunden weggedöst. Tiefenentspannung.
Weiter über eine Hügellandschaft, laufen wir erhöht parallel zur Hauptstrasse, immer wieder mit Blick auf den Tajo-Stausee. Wasser! Ein Traum! Das auf und ab des Hügels treibt vorwärts. Jedes Mal eine Belohnung wenn man wieder nach oben kommt und den Stausee erblickt. Die Sonne wird wärmer, die Kleidung leichter. Am Ende des Hügels mündet der Weg wieder in die Hauptstrasse. Die dortige Botschaft „Nur noch 5km zu Linda und Maarten!“ (unsere nächste Unterkunft) gibt uns neuen Elan weiterzulaufen. Auf dem Seitenstreifen der N630 schleppen unsere müden Füße uns weiter. Die strahlende Sonne zerrt an unseren Kräften, das Wasser geht uns langsam aus, der Asphalt verlangsamt unser Tempo. Müssten wir unser Ziel nicht schon längst sehen? Ein anderer Pilger, den wir in der Ferne auf der Strasse erkennen können, nimmt uns die Hoffnung, dass wir bald da sein könnten. Der unmittelbare Blick auf den Stausee tut gut. Ich schaffe es mit den Gedanken abzuschweifen und mich damit abzulenken. im Kopf gehe ich die Dinge durch, die ich erledigen will wenn ich zurück bin. Ein Thema: Wohnungseinrichtung. Wie ein Mantra gehe jeden einzelnen Raum unserer Wohnung durch und richte ihn gedanklich neu ein. Ich rücke Möbel hin und her, stimme Farben miteinander, schreibe Einkaufslisten… und dann endlich: um 14:00 Uhr erreichen wir unser Ziel. Wie eine Oase in der Wüste liegt die kleine Finca in einer Seitenstrasse.
Erschöpft lassen wir uns in der Sonne auf der Terrasse in den Korbsesseln nieder, schlürfen eiskalte Limo und entspannen die beanspruchten Muskeln. Unsere erste „richtige“ Etappe haben wir geschafft: 20km. Ich bin erschöpft, aber nicht komplett erledigt. Ein gutes friedliches Gefühl. In diesem Moment gibt es nicht viel zu denken oder zu grübeln. Wir sitzen einfach da und lassen die Seele baumeln.
Nach der erste Entspannung ziehe ich mich auf unsere liebevoll eingerichtetes Doppelbettzimmer zurück. Wir haben „das griechische Zimmer“: alles in Blau und Türkis. Und eine Dusche! Juhu! Danach Barfuss in die Flipflops. Das fühlt sich besser an als Wellness und Sauna zusammen. Einfach nur ein Traum.
Ich geselle mich wieder zu den anderen Pilgern, die circa 1 Stunde vor uns eingetroffen sind, in die Sonne. Wir quatschen über dies und das, schweifen mit den Gedanken zu den wichtigen Themen, die uns beschäftigen, planen unsere Route am nächsten Tag. Und dann geht wieder jeder für einen Moment seinen Weg, in seinem Tempo. Während der Pilger Oliver einen Abstecher zum See macht, richte ich mir ein stilles Plätzchen hinterm Haus auf der Terrasse ein. Auf einer Liege kuschel ich mich in meinem Fleece-Kapuzenpulli und blicke auf den weiten Stausee. Die knubbeligen Wolken ziehen immer und immer wieder an der Sonne vorbei. In diesem Wechselspiel aus Sonne und Schatten, fallen mir langsam die Augen zu. Verführt von der Müdigkeit, lege ich mich von circa 18 bis 20 Uhr schlafen. Dann gibt es Essen.
Vorweg Suppe und dann Pasta. Auf Pasta hab ich schon seit heute Mittag Hunger und dann gibt es das tatsächlich. Was für ein Segen! Bedächtig genieße ich jeden einzelnen Happen, jeden Schluck Wasser. Es schmeckt auch einfach alles intensiver und besser. Nach dem Essen vertreten wir uns noch die Füße und erkunden die Gegend um die Finca herum. Auf einem kleinen Plateau blicken wir auf die untergehende Sonne. Still und romantisch.
Vorm Schlafen gehen, reflektiere ich meine heutigen Erkenntnisse:
- Jeder noch so kleiner Ballast ist körperlich als überflüssiges Gewicht spürbar. Während des Laufens bin ich immer wieder das Innenleben meines Rucksacks durchgegangen. Und ich weiß genau was überflüssig ist. Die Summe von kleinen Dingen kann auch 1kg ergeben. Gedanklich mache ich mir die Summe/ den Haufen des Ballasts deutlich und sortiere ihn aus.
- Mein Kopf ist voll von Bildern aus meinem Alltag in Deutschland. Erst müssen alle alten Bilder und Themen aus dem Kopf raus, um neue Bilder zu sehen und neue Themen zu denken. Dabei muss ich an die Mechanik beim Fasten denken.
- Ich schaffe es nicht völlig abzuschalten und zu entspannen. Es gibt immer einen Faktor, der mich in permanenten Stress versetzt (z.B. Haben wir genug Essen? Reicht das Wasser? Schaffe ich die Etappe? Der Rucksack ist so verdammt schwer!). Es fehlt die Lockerheit, alles Gesetzte als aufgelöst zu betrachten.
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